Wege aus der Sackgasse finden
Wenn zwischendurch ein Rat nötig ist, kommen sie auch freiwillig vorbei. Trifft man sichper Zufall auf dem Rheinhauser Markt gibt es ein Schwätzchen oder eine Portion flapsiger Worte. „Das freut mich, weil es mir zeigt, dass die Jugendlichen gerne auf mich zukommen und Vertrauen zu mir haben“, sagt die Sozialarbeiterin. Einen verlässlichen Ansprechpartner zu haben, ist ein Gefühl, das die Jugendlichen und Heranwachsenden dringend brauchen. Denn die Rheinhauserinnen und Rheinhauser im Alter zwischen 14 und 21 Jahren sind wegen einer oder mehrerer Straftaten angeklagt. Die Bandbreite der Delikte, wegen derer sich die Jugendlichen verantworten müssen, ist groß. Sie reicht vom Mädchen, das im Drogeriemarkt eine Tube Lipgloss nicht bezahlte über den Jugendlichen, dem Sachbeschädigung vorgeworfen wird, bis hin zu Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz oder versuchtem Mord. Sobald die Sozialarbeiterin der Grafschafter Diakonie, dem Diakonischen Werk im Kirchenkreis Moers, dieAnklageschrift der Staatsanwaltschaft erhalten hat,lädt sie die Jugendlichen in ihr Büro am Hochemmericher Markt ein. Für die Arbeit der 28-Jährigen bedeutet diese Begegnung einen wichtigen Moment. „Ich schaue dann erst einmal nur die Person an, nicht die Straftat“, sagt sie. „Und ich zeige klar die Konsequenzen auf, die sie zu erwarten haben.“ Beides gebe ihnen Sicherheit für den weiteren Weg. „Meine Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass daraus keine Sackgasse wird“, beschreibt sie das Ziel ihrer Arbeit.
Dafür ist Annika Jacob viele Kilometer mit dem Dienstauto unterwegs. Sie ist bei den Strafverfahren in Düsseldorf und Geldern im Gerichtssaal dabei und betreut die Jugendlichen in Herne und Iserlohn, wo die zuständigen Justizvollzugsanstalten ansässig sind. Bei den Verfahren macht sie den persönlichen Hintergrund der Angeklagten deutlich und verfasst einen Bericht über die vorhandenen Ressourcen. Am Ende des Verfahrens ist ihre Einschätzung gefragt. Welches Strafmaß hält sie aus sozialpädagogischer Sicht für angemessen? In 80 Prozent der Fälle folge das Gericht ihrer Empfehlung. „Ziel ist es, eine Lösung zu finden, die die Chancen auf einen stabilen und künftig straffreien Lebensweg eröffnet.“
Wichtig ist ihr dabei, dass die Jugendlichen sich bei denen entschuldigen, die sie mit ihrer Tat geschädigt haben. „Das können sie zum Beispiel tun, indem sie persönlich in der Hauptverhandlung Kontakt aufnehmen oder sie schreiben einen Brief, den sie danach übergeben.“ Lässt sich eine Zeit in der Haft nicht vermeiden, ist sie auch in diesem Fall vor Ort präsent. Sie steht in Kontakt mit dem Sozialdienst der Einrichtungen und klärt z.B., ob die Jugendlichen die Zeit nutzen können, um einen Schulabschluss zu machen, ein etwaiges Suchtproblem in den Griff zu bekommen oder mögliche Schulden loszuwerden. Unabhängig vom Ausgang der Verfahren arbeitet sie mit den Jugendlichen an ihrer Entwicklung. Eine U25-Beratung beim Jobcenter klärt, welche Schritte ins Berufsleben trotz der schwierigen Umstände möglich sind. Antigewalttrainings und Workshops zur Medien- oder Sozialkompetenz stehen z.B. auf dem Programm.
Dass Annika Jacob immer wieder lächelt, wenn sie von „ihren“ Jugendlichen berichtet, hat auch mit Entwicklungen wie dieser zu tun: Mehrere Straftaten und den Rauswurf aus der elterlichen Wohnung hatte ein Jugendlicher hinter sich, als er der Sozialarbeiterin erstmals begegnete. Eine den Rheinhauser betreffende Anklageschrift hatte die Fachkraft inzwischen nicht mehr auf ihrem Schreibtisch. Stattdessen meldete sich der junge Mann zwei Jahre später: Inzwischen hat er eine Ausbildung begonnen, fand eine eigene Wohnung und eine feste Freundin, die zu ihm zog.
Die Zahl der Jugendlichen, die die Jugendgerichtshelfer auf ihrem Weg begleiten, ist in den zurückliegenden Jahren gestiegen. Im Jahr 2019 wuchs sie in den Beratungsstellen der Grafschafter Diakonie in Rheinhausen und Homberg um z.B. um 28 an. Der Einsatz der zwei Fachkräfte, die dort insgesamt 261 Fälle betreuten, wird künftig noch mehr gefragt. Das Land Nordrhein Westfalen erließ eine gesetzliche Vorschrift, nach der die Pädagogen ihre jungen Klienten auch bei den polizeilichen Vernehmung begleiten sollen. Karola Haderlein, die als Leiterin „Erzieherische Hilfen“ der Grafschafter Diakonie auch für die „Jugendhilfe im Strafverfahren“ verantwortlich ist, hält das für einen guten Schritt und betont, dass Anpassungen nötig sind: „Für den weiteren Personaleinsatz ist eine Erhöhung der Mittel durch das Land Nordrhein-Westfalen unabdingbar.“